Diesen Artikel habe ich vor einigen Jahren geschrie-ben, um auf eine in Seminaren oftmals gestellte Frage zu reagieren. In un- serer Gegenwartskultur haben die Menschen offenbar Wissen oder Vorstellungen über bestimmte Traditionen, etwas Judentum oder Buddhismus, während andere Weisheitstraditionen weniger bekannt sind.
Sufismus
Etwas, das für alle Weisheitslehren, Traditionen, Philosophien
gilt, hat sicher auch für den Sufismus Gültigkeit: Es gibt nicht „den Sufismus“; durch die vielen Jahrhunderte hindurch existieren viele unterschiedliche Ansätze, Strömungen, Entwicklungen und
Ausprägungen der spirituellen Praxis, der Lebensweise und der Künste.
Sufismus ist, zunächst allgemeiner umschrieben, die ursprüngliche Weisheitslehre des Nahen Ostens, mit Wurzeln in Ägypten, Ausläufern in Indien und mit Einfluss auf die nahöstlichen Religionen von
heute. Sufismus ist auch ein Sammelbegriff für die ursprünglichen, freiheitsliebenden Strömungen im Islam, die die innere Suche und die mystische Erfahrung bejahen - eine lebendige Tradition überall
auf der Welt, mancherorts aus politischen Gründen auch im Verborgenen praktiziert.
Die Ausprägungen, die hier beschrieben werden, beziehen sich auf den Sufismus, wie ihn der Sufi-Meister und Musiker Hazrat Inayat Khan (1886-1926) Anfang des 20. Jahrhunderts von Indien in den Westen gebracht hat, nach Europa und in die USA. Dieser Sufismus hat viele Aspekte und viele Gesichter, und es ist keinesfalls so, dass Lernende und Lehrende überall dort gleichermaßen zuhause sind: Musik und Dichtkunst, Textstudium und Meditation, spiritueller Tanz, Heil-Konzentration und die lebensnahe, vielschichtige Psychologie, um nur einige zu benennen.
Die Sufi-Tradition, wie sie in der Nachfolge von Hazrat Inayat
Khan gelebt und gelehrt wird, sucht und braucht keine Abgrenzung: Inayat Khan beantwortete während eines Vortrags die Frage eines Zuhörers, der mit vielen Strömungen des Sufismus vertraut war.
Dieser wollte wissen, ob er sich aus seinem eigenen Glauben ausschließt und den Muslimen anschließt, wenn er einer Sufi-Gemeinschaft beitritt.
Die Antwort lautete: „Für einen Sufi ist die Offenbarung die innewohnende Eigenschaft einer jeden Seele, die sich durch alle Stadien der Evolution der Welt hindurchgearbeitet hat. (…) Für einen Sufi
ist es ein niemals endender Fluss der göttlichen Strömung. Unser Orden besteht aus Wahrheit suchenden Menschen verschie-dener Glaubensrichtungen und Bekenntnisse,
die in keiner Weise verpflichtet sind, den Glauben, den sie haben mögen, aufzugeben. Weder müssen sie einen bestimmten Glauben akzeptieren, noch sind sie, wenn sie keinen haben, gezwungen, einen
anzunehmen. (…) Es wird nicht einmal von ihnen verlangt, dass sie sich selbst Sufi nennen. Was das Lehren betrifft, so werden sie natürlich für eine gewisse Zeit vom Murshid (Lehrer) geführt, doch
wenn das bestanden ist, so haben sie jede/r ihren eigenen Pfad und sind Meister/ Meisterinnen ihres eigenen Pfades.“
Aus dieser geistigen Freiheit heraus gab Inayat Khan den Menschen im Westen Handwerkszeug: Das alte Wissen dieser Tradition, wie es etwa in den 99 schönsten Namen, der sogenannten „Sifat i' Allah“,
gleichermaßen verborgen ist und offensichtlich wird;* seine persönliche Inspiration zu vielen Lebensfragen und
Lebensbereichen, genährt aus dem ganzen Weisheitsschatz der Menschheit und überliefert vor allem durch Niederschriften seiner Vorträge; universelle Gebete, von denen sich Menschen mit und ohne
Glauben angesprochen fühlen; Rituale, die interreligiös/universell sind und die Menschen unterschiedlicher religiöser Auffassung gemeinsam praktizieren können.
Man muss sich klar darüber sein, dass er einen „Universellen Gottesdienst", in dem für jede Religion eine Kerze entzündet und ein Weisheitstext gelesen wird, vor 1920 initiierte – lange, bevor
die Globalisierung solche Glaubensvielfalt mit sich brachte, dass gemeinsame Formen und neue Rituale
gebraucht werden!
In seiner Nachfolge studieren wir die Weisheitsschätze in Dankbarkeit für alle Wege der Menschheit. Was dabei zählt, ist die eigene Erfahrung, jenseits von Dogmen und Theologien. Daher widmen praktizierende Sufis den Übungen, individuell und in Gemeinschaft, ihre Zeit und Aufmerksamkeit: Sufitänze und nahöstliches Körpergebet, Zikr/ Dikhr (Erinnerung an die göttliche Quelle), Wazifah (Klänge der Weisheit und der Heilung, der Kraft und der Meisterschaft im Leben, der Hingabe und der Empfänglichkeit, um nur einige zu nennen – gesungen, gesprochen, getanzt); ebenso Zeiten in Stille zum Atmen und Spüren, Zeiten der Konzentration auf Heilung und Frieden.
Die Schönheit der Musik, das Geschenk der Gemeinschaft, die vielen Gesichter der Liebe in Klang und Poesie, die
Freude am Studium der Weisheitsschätze, schließlich auch der spürbare Fortschritt auf dem Lebensweg – all das kann unser Herz öffnen und unseren Verstand zu einem besseren Gefährten machen; es führt
uns in die Gegenwärtigkeit und nährt uns aus der Fülle der göttlichen Gaben, die auf den Weisheitspfaden der Menschheit lebendig und erfahrbar sind.
Lehrer und Lehrerinnen der Sufi-Tradition schöpfen daher oftmals aus vielen Quellen. Ihre Aufgabe ist, den Suchenden in einer lebendigen Tradition tiefe Wurzeln zu geben, spirituelle Begleitung, eine
Verbindung mit dem Segensstrom derer, die den Weg vor uns und für uns gegangen sind, persönliches Vertrauen, Rat und Beistand in schwierigen Zeiten, Arbeit an der weiteren Entfaltung der persönlichen
Reife, konkrete Schulung auf dem Weg hin zu tiefer Achtsamkeit und Herzensoffenheit. Das ist es, was die großen Traditionen der Menschheitsgeschichte für unsere Zeit und über unsere Zeit hinaus
lebendig erhält.
*in diesen kraftvollen
und heilsamen Namen
und Klängen sind göttliche Eigenschaften
verschlüsselt, die durch Erklingen-Lassen und Meditation ihre Wirkung
entfalten.
Jamila W.M. Pape